Ein verpasster Termin, ein falsches Wort, ein Fan von Ananas-Pizza – wir alle machen Fehler. Meist verzeihen wir uns diese selbst am allerwenigsten. Das, was wir uns dann an den Kopf werfen, würde im Kinderfernsehen nur nach einem langen Zensur-»Beep« klingen. 

Nicht im Traum würde uns einfallen, solche Kritik und Vorwürfe anderen Menschen vor die Füße zu knallen. Ihnen bringen wir Mitgefühl entgegen. Was wäre, wenn wir das auch bei uns selbst könnten? – Tada, Selbstmitgefühl ist geboren. Aber was zur Hölle ist das? Wozu ist das gut? Und wie kann man es entwickeln, wenn es doch scheinbar so hilfreich ist?

Was ist Selbstmitgefühl?

Die Idee von Selbstmitgefühl stammt aus der buddhistischen Kultur und wurde stark geprägt durch die Forschung von Kristin Neff, eine Psychologin an der University of Texas in Austin. 

Einfach gesagt, bedeutet Selbstmitgefühl (engl. Self Compassion) sich selbst so zu behandeln, wie man eine/n Freund:in behandeln würde – ganz gleich, welche Scheiße diese Person gebaut hat oder wie oft sie einem sagt »Ich bin nicht gut genug, dumm und überhaupt eine Vollkatastrophe eines Menschen.«

Werde selbst zu deinem/r besten Freund:in – das Grundprinzip hinter Selbstmitgefühl.

Laut Frau Neff besteht Selbstmitgefühl aus 3 Komponenten: [1]

1. Selbstfreundlichkeit

Anstatt Selbstkritik zu üben, wenn wir persönliche Unzulänglichkeiten bemerken, begegnen wir uns unterstützend, ermutigend und warmherzig. 

Beispiel: Marie hält eine Präsentation in der Firma und hat einen vollkommenen Black-Out. Ihre übliche Reaktion danach: »Ich bin einfach nur peinlich und eine Vollversagerin. Nichts krieg ich auf die Reihe!« Würde sie sich freundlich begegnen, könnte sie sagen: »Dieses Mal ist es nicht so gut gelaufen. Ich habe auch gerade extrem viel Stress und konnte mich nur wenige Stunden vorbereiten. Außerdem kann ich stolz auf mich sein, mich mit meiner Vortragsangst überhaupt getraut zu haben, vor Publikum zu sprechen.«

Klingt doch gleich viel netter und nimmt Druck. 

2. Geteilte Menschlichkeit

Anstatt als einsamer Wolf mit den Gedanken »Warum passiert das immer nur mir?« durch die Welt zu streifen, sehen selbstmitfühlende Leute ihre Erfahrung als etwas zutiefst Menschliches an.

Wir alle sind ein Work-in-Progress, machen Fehler und erleben die tiefen Täler des Lebens. Anders ausgedrückt: Wir glauben unsere Gefühle, Gedanken und Erlebnisse sind einzigartig, dabei gibt es nichts, was nicht schon jemand anderes vor uns erlebt hätte. – Sorry, das war etwas hart und verfehlt etwas den Sinn dieses Beitrags, dass wir uns alle hier (selbst)mitfühlend begegnen.

Du bist natürlich etwas ganz besonderes (Genauso besonders, wie jede/r andere auch – also, dann wohl doch wieder nicht so besonders…Ich kann’s einfach nicht lassen. Zurück zum Punkt.)

Beispiel: Wir sind noch immer bei Marie und ihrer verpatzten Präsentation. Statt Gedanken wie »Ich bin eine komplette Versagerin. Warum erleben meine Kolleg:innen sowas nie« könnte sie sich daran erinnern »Das kann jedem Mal passieren. Tatsächlich habe ich schon von einigen Bekannten ähnliche Stories gehört.«

Das Gefühl nicht allein mit schlechten Erfahrungen zu sein, lässt einen aufatmen. »We are all in this together« – wahrlich eine Lebenslektion für uns alle, die uns High School Musical da mitgibt. 

3. Achtsamkeit

Anstatt sich mit einer negativen Erfahrung zu identifizieren und sich noch tagelang für einen Fehler zu verurteilen, hilft uns Achtsamkeit Abstand zu gewinnen.

Es geht darum alle Gedanken, Emotionen und Empfindungen zu erlauben, ohne Widerstand zu leisten, sie zu unterdrücken oder zu vermeiden. Besonders bei Negativem fällt uns das oft schwer. 

Beispiel: Die gute Marie fühlt sich nach ihrem Black-Out schlecht. Ihre Gedanken kreisen nur darum, welch eine Versagerin sie ist. »Warum habe ich mich nicht besser vorbereitet? Ich werde niemals eine gute Präsentation halten können. Ich habe alle enttäuscht.« Sie fühlt sich schlecht und verurteilt sich dafür, was passiert ist. Mit einem achtsamen Blick auf sich selbst, kann sie der Situation mit mehr Akzeptanz begegnen: »Ich wünschte, das wäre nicht passiert. Aber es ist komplett verständlich, dass ich mich jetzt schlecht fühle. Erstaunlich war, dass ich tatsächlich die Gefühle der Peinlichkeit während des Vortrags ausgehalten habe. Ich bin nicht davongelaufen. Ich weiß, dass meine Emotionen mich nicht umbringen und dass sie letztendlich schwächer werden.«

Selbstmitgefühl ist kein Selbstmitleid

Sich freundlich, verständnisvoll und warmherzig begegnen – Selbstmitgefühl klingt verdächtig ähnlich zu Selbstmitleid. Dabei könnten beide Konzepte nicht unterschiedlicher sein. Mit Selbstmitleid macht man sich selbst zum Opfer – »Ich bin arm.«, lautet das Credo. Mit Selbstmitgefühl hingegen nehmen wir Zuschauer:innen-Rolle ein. Mit einem Blick von außen, schätzen wir die Situation realistischer ein und verlieren uns nicht im Sog von »Warum immer ich?«. Wir bleiben handlungsfähig. Das bestätigt auch die Forschung. Der Psychologe Filip Raes von der University of Leuven in Belgien fand heraus, dass Personen mit einem höheren Maß an Selbstmitgefühl dazu neigten, weniger über ihr Unglück zu grübeln und sich im Selbstmitleid zu verlieren. [2]

Was bringt es?

Das klingt ja alles schön und gut, aber wozu ist Selbstmitgefühl gut? Wenn wir uns nicht selbst kritisch gegenübertreten, geht doch gar nichts mehr voran, oder? Wir verweichlichen, wenn wir uns mit dem Status Quo immer zufrieden geben.

Berechtigter Einwand. Allerdings sprechen wissenschaftliche Erkenntnisse eine andere Sprache. 

Zunächst geht ein erhöhtes Selbstmitgefühl mit weniger Depression und Ängsten einher. Es erhöht die Lebenszufriedenheit, lässt uns weniger Grübeln und hilft im Umgang mit Stress. [3,4,5]

Außerdem vermindert Selbstmitgefühl unsere Motivation, unseren Antrieb, nicht – ganz im Gegenteil. Wir setzen uns dadurch mehr mit der tatsächlichen Situation auseinander, können unser Scheitern akzeptieren und sehen es als eine Chance, daraus zu lernen. [6] Wir schätzen uns realistischer ein und sehen Fehler nicht als Teil unserer Identität. Diese akzeptierende Haltung gibt uns Motivation an unseren Schwächen zu arbeiten, anstatt sich von ihnen auffressen zu lassen. [7]

Und? Überzeugt, dass Selbstmitgefühl etwas richtig Tolles ist? 

Dann stellt sich jetzt nur noch die Frage: »Wie werde ich selbstmitfühlender?« Keine Sorge, hier hat der Psychologie-Werkzeugkoffer einiges zu bieten.

Wie kannst Du mehr Selbstmitgefühl entwickeln?

Kristin Neff und Christopher Germer bieten in ihrem Übungsbuch einen ganzen Katalog, wie Du Selbstmitgefühl steigern kannst. [8]

Die fundamentale Frage lautet immer »Was brauche ich?«

Um das herauszufinden, gehe am besten die 3 Komponenten des Selbstmitgefühls durch. Diese Übung nennt sich »Selbstmitgefühlspause« und Du kannst sie gerne schriftlich ausführen oder in Gedanken. 

Übung: Die Selbstmitgefühlspause?

Diese Übung bezieht sich auf die 3 Komponenten des Selbstmitgefühls. Du kannst sie immer perfekt anwenden, wenn etwas schiefgegangen ist, Du in einer schwierigen Situation steckst oder Stress hast. 

  1. Achtsamkeit – Erkenne die Situation an. Sag dir »Das ist gerade schwierig.«, »Das tut weh.«, »Ich fühle mich schlecht.«, »Ich habe Stress.«
  2. Geteilte Menschlichkeit – Erkenne, Du bist nicht allein mit deiner Erfahrung. Sag dir » Andere Menschen fühlen auch so.«, »Ich bin nicht allein mit diesem Erlebnis.«, »Wir alle kämpfen in unserem Leben.«
  3. Selbstfreundlichkeit –  Sei freundlich zu dir selbst. Beantworte die Fragen: »Was brauche ich? «, »Was kann ich jetzt gebrauchen?« oder »Was tut mir gut?«. 

Um Antworten zu finden hilft oft ein Perpektivenwechsel: »Was würde ich einem/r guten Freund:in in der gleichen Situation raten? Wie würde ich mit ihm/ihr umgehen? Was würde ich sagen?«

Selbstmitgefühl funktioniert getreu dem Motto »Was du nicht willst, dass man anderen tut, das füg auch dir nicht zu.« 

Klingt simple, ist es aber nicht. Die allermeisten von uns haben gelernt, dass wir uns mit Selbstkritik begegnen müssen. Dieses Muster ist tief in unserem Kopf verankert und unser Gehirn braucht Zeit umzudenken. Diese sollten wir im geben. Also, viel Selbstmitgefühl beim Erlernen von mehr Selbstmitgefühl.

Alles, was Du wissen musst:

Selbstmitgefühl besteht aus 3 Komponenten: Selbstfreundlichkeit, Geteilte Menschlichkeit und Achtsamkeit

Selbstmitgefühl ist kein Selbstmitleid

Selbstmitgefühl wirkt motivierend, stressreduzierend, reduziert Ängste und Grübeln. 

Die fundamentale Frage lautet immer »Was brauche ich?«

Selbstmitgefühl entwickeln mit der »Selbstmitgefühlspause« und der Frage: »Was würde ich einem/r guten Freund:in in der gleichen Situation raten? «


Quellen

  1. Neff, K., & Germer, C. (2018). The Mindful Self-Compassion Workbook: A Proven Way to Accept Yourself, Build Inner Strength, and Thriveÿ ÿ. Guilford Publications. Übersetzung nach Windscheid, L. (2021). Besser fühlen: Eine Reise zur Gelassenheit. Rowohlt Verlag, Hamburg.
  2. Raes, F. (2010). Rumination and worry as mediators of the relationship between selfcompassion and depression and anxiety. Personality and Individual Differences, 48, 757– 761.
  3. ebd.
  4. Brown, L., Huffman, J. C., & Bryant, C. (2019). Self-compassionate aging: A systematic review. The Gerontologist59(4), e311-e324.
  5. Chishima, Y., Mizuno, M., Sugawara, D., & Miyagawa, Y. (2018). The influence of self-compassion on cognitive appraisals and coping with stressful events. Mindfulness9(6), 1907-1915.
  6.  Neff, K. D., Hsieh, Y. P., & Dejitterat, K. (2005). Self-compassion, achievement goals, and coping with academic failure. Self and identity4(3), 263-287.
  7.  Breines, J. G., & Chen, S. (2012). Self-compassion increases self-improvement motivation. Personality and Social Psychology Bulletin38(9), 1133-1143.
  8.  Neff, K., & Germer, C. K. (2020). Selbstmitgefühl-das Übungsbuch: ein bewährter Weg zu Selbstakzeptanz, innerer Stärke und Freundschaft mit sich selbst. Arbor Verlag.

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