5 Gründe, warum psychische Diagnosen Quatsch sind

5 Gründe, warum psychische Diagnosen Quatsch sind

F40.1, F50.00, F50.8, F32.0, F33.1 – was erstmal klingt, wie ein Lottospiel, das den Unterschied zwischen Buchstaben und Zahlen nicht verstanden hat, sind in Wahrheit meine Diagnosen. 

Nicht nur einmal ist mir bisher auf Instagram ein Profil untergekommen, in dem in der Bio die Codes aus dem europäischen Diagnosesystem für psychischen Störungen, dem ICD-10, angeführt werden. 

Wie Trophäen werden die kryptischen Zeichenkombinationen dargeboten. 

Das ist absurd und im schlimmsten Fall gefährlich. Zudem Diagnosen im psychischen Bereich nur bedingt Sinn machen. 

Hier sind 5 Gründe, warum ich psychische Diagnosen kritisch sehe.  

1. Diagnosen bestimmen, wer Therapie bekommt

In Deutschland bestimmen Diagnosen klar, wer eine kassenärztlich finanzierte Psychotherapie bekommt und wer nicht. Nur mit offiziellem Code aus dem Diagnosekatalog rückt die Krankenkasse die finanziellen Mittel raus.

Das ist insofern problematisch, da es zur Stigmatisierung von Therapie beiträgt. Unterstützung für die Psyche zu holen ist scheinbar nur dann ok, wenn man auch wirklich so »krank« ist, dass man eine Diagnose »verdient«.

2. Diagnosen machen dich kränker als Du bist

Apropos krank – bekommst Du eine Diagnose, bist Du krank. Das ist in der Medizin so, aber auch in der Psychologie.

Wie ein Stempel wird sie dir aufgedrückt. Bei körperlichen Erkrankungen heißt es dann oft »Du kannst ja nichts dafür« oder »Kein Wunder, dass Du dir bei der Zugluft eine Erkältung eingefangen hast.«

Anders bei einer psychischen Diagnose. Da ist die Person schnell selbst das Problem. Wenig Spur von Verständnis oder der Suche nach der echten Ursache. Mit einer psychischen Störung bist DU krank, etwas ist mir DIR nicht in Ordnung.

Dabei übersehen wir, dass kein Mensch psychisch krank wird, weil er oder sie durchgeknallt oder verrückt ist. Ich wiederhole: KEIN Mensch entwickelt aus Jux und Tollerei psychische Probleme. 

Wir Menschen sind höchst anpassungsfähige Tiere. Werden uns Widrigkeiten vor die Füße geworfen, versuchen wir einen Weg zu finden, damit umzugehen. Oder à la Facebook-Post von Tante Frieda: Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Limonade draus. Leider, sind nicht alle Anpassungsstrategien langfristig konstruktiv für uns selbst und daraus können Probleme entstehen. 

Psychisch krank zu sein, hat also nichts damit zu tun, dass wir einen schwachen Charakter haben oder uns die Depression als neue Persönlichkeitseigenschaft aussuchen. Ich bin keine Depressive. Ich bin eine Person, die Depressionen entwickelt hat, weil ein Zusammenspiel von Genen, äußeren Umständen und meiner inneren Welt mir keine Wahl gelassen haben. 

Dieses Trio aus  körperlichen, psychischen und sozialen Faktoren, nennt man übrigens das Bio-Psycho-Soziale Modell nach dem Psychiater George Engel.

3. Diagnosen sind unklar

Eingangs habe ich meine Diagnose-Trophäen präsentiert. Da sind über die Jahre einige zusammengekommen. Das Absurde daran ist, dass ich sie rückblickend auf zwei, maximal drei Kernprobleme runterbrechen kann – und alle haben denselben Ursprung.

Diagnosen wechseln und überschneiden sich extrem. Ursprünglich wurde in der klinischen Psychologie auch der Ansatz verfolgt, Störungsbilder nach ihrer Ursache zu kategorisieren. Davon ist man abgekommen. Heute unterteilen wir nach Symptomen, nach dem, was wir an der Oberfläche sehen. Die Person hat Angst vor Leuten zu sprechen? Diagnose: Soziale Phobie. Schon mehrere Tage nicht aus dem Bett bekommen? Depression. Erbrechen nach dem Essen? Bulimie. 

Es gibt viele Therapieprogramme, die auf bestimmte psychische Störungen zugeschnitten sind. Setzt man sich mit ihnen auseinander, fällt schnell auf: Bei vielen geht es um Selbstakzeptanz und -fürsorge, Emotionsregulation, Beziehungsaufbau und das entwickeln gesunder Bewältigungsstrategien. 

Kein Wunder, dass viele ihre Diagnosen wechseln wie ihre Kleidung – je nach Diagnostiker:in kommen da gerne Unterschiede zusammen

Der Kern wird dabei schnell übersehen. 

Nicht nur, dass man irgendwann selbst gar nicht mehr durchblickt, welcher Zahlencode gerade aktuell ist, es kann auch dazu führen, dass wir falsche Hilfe bekommen.  

4. Diagnosen als Identität

Wir alle wollen wissen, wer wir sind. Dabei legen wir uns meist einen ganzen Katalog an Identitäten zu. Ich bin Tochter, Psychologin, Österreicherin, Psychiatrieerfahrene, schlecht im Small-Talk – and the list goes on an on. 

Manche dieser Identitäten sind flexibler, manche weniger. Manche davon tun mir langfristig gut bzw. sind eher neutral, manche nicht. 

Ein Problem mit psychischen Diagnosen kann dann entstehen, wenn wir sie zu unserer einzigen und bedeutsamsten Identität machen.

Ich kenne das selbst von mir. Ich bin eine sehr ängstliche Person – so würde ich mich immer beschreiben. Das heißt, in meinem Kopf existiert ein »Julia hat viel Angst«. Dieser Glaubenssatz hat sich über die Jahre so in meinem Hirn festgebohrt, dass ich ihn oft gar nicht mehr hinterfrage. Damit schränke ich mich jedoch ein. Denn wenn ich in mich gehe, dann merke ich, dass ich in manchen Situationen ängstlich bin und in anderen nicht. 

Identitäten können sich ändern und für ein gutes, erfülltes Leben, müssen sie das sogar. Das Festklammern an der Vorstellung von mir als Person mit Diagnose XY, kann das verhindern. 

5. Diagnosen führen zu Vergleichen

Hand in Hand mit »Diagnosen als Identität« kann ein bestimmtes Vergleichsspielchen gehen. Die Regeln dafür sind einfach: Wer die meisten und schlimmsten Diagnosen hat, gewinnt. 

Nicht alle Menschen, die eine psychische Diagnose bekommen, haben Kontakt zu anderen Betroffenen. Und während ich nicht abstreiten möchte, dass ein Austausch mit Gleichgesinnten Balsam für die Seele sein kann, habe ich auch das Gegenteil erlebt. 

Gerade während meinen stationären Therapieaufenthalten aufgrund meiner Essstörung kam es immer wieder zu, meist unterschwelligen, Vergleichen. Wer isst wie viel? Haben die anderen abgenommen? Habe ich die krasseste Story? 

Ich habe das Gefühl, dass besonders junge Menschen auf der Suche nach ihrer Identität, in diese Vergleichsfalle tappen können. Allerdings kennen wir doch alle diese Vergleiche, in denen wir aufwiegen, wessen Leid denn nun das schlimmste ist. 

Natürlich gibt es genauso viele Vorteile, wie Nachteile von psychischen Diagnosen. So ist die Welt – alles hat zwei Seiten. 

Ich habe auch keine Lösungsvorschläge für die aufgeführten Punkte. Das zeigt, wie komplex das Ganze ist. 

Dieser Beitrag betont lediglich, welche kritischen Punkte wir nicht aus den Augen verlieren sollte, wenn wir über eine Klassifikation von psychischen Problemen sprechen: 

  1. Diagnosen bestimmen, wer Therapie bekommt.
  2. Diagnosen können dich kränker machen, als Du bist.
  3. Diagnosen sind unklar und schlecht voneinander abzugrenzen.
  4. Diagnosen können zur Identität werden.
  5. Diagnosen können zu Vergleichen führen. 

Ich bin sehr gespannt auf eure Meinung zum Thema psychische Diagnosen. Seht ihr es ähnlich kritisch? Oder überwiegen für euch die Vorteile? Habe ich wichtige Punkte vergessen?  Schreibt es mir gerne in den Kommentaren.

Diese Website verwendet Cookies, um dir die bestmögliche Browsing-Erfahrung zu bieten. Die mit Hilfe von Cookies gesammelten Daten werden zur Optimierung der Webseite genutzt und um relevante Informationen anzuzeigen.  Mehr erfahren